Sterbebegleitung und Freitod

Vor ein paar Jahren begleitete ich eine alte Nachbarin in ihrer letzten Lebenszeit. Sie wäre in einem Vierteljahr neunzig geworden. Als wir sie im Spital besuchten, wohin sie wegen einer vermeintlichen Darmentzündung gekommen war, sass sie aufrecht im Bett und sagte trocken: «ich bin ein hoffnungsloser Fall». Ich glaubte erst, sie mache eine ihrer scherzhaften Bemerkungen Sie teilte aber sofort ebenso trocken die Diagnose mit: «Leberkrebs». Mir schossen die Tränen in die Augen, als ich die Bedeutung ihrer Worte begriff.

Gleichzeitig bewunderte ich ihren Mut und ihre Gefasstheit, denn sie versicherte, keine lebensverlängernden Massnahmen in Anspruch nehmen zu wollen. Sie hatte das Glück, zuhause von einer Nichte Tag und Nacht betreut und gepflegt zu werden.

Die Nicht erzählte mir, ihre Tante bekäme so viel Besuch, wie sie, die Nichte, nicht in einem Jahr erhalte. Und die Tante würde sagen: «Es wäre nicht gut für meine Seele, wenn ich diese Menschen abweisen würde».

In ihren letzten zehn Tagen besuchte ich sie jeden Tag. Dass sie sich in einer Krise befand, merkte ich an ihrer Frage: «Was meinst du, aus dem Fenster springen wäre wohl keine Lösung?» Ich zögerte, sagte dann «Nein» und setzte hinzu: «Wenn du wirklich sterben willst, hörst du auf zu essen.» Durfte ich ihr diesen Hinweis geben?

Ihre Antwort war: «Aber so ein klapperdürres Gestell möchte ich auch nicht werden». Sie hat es dann doch durchgehalten. Es fiel ihr nicht so schwer, weil die von der Krankheit verursachte ständige Übelkeit ihr den Appetit nahm.

Sie fiel ins Koma. Der Arzt, ein verständnisvoller Mann russischer Herkunft, sagte: «Sie ist schon auf dem Weg nach oben». Ausser dem nötigen Befeuchten der Lippen und schmerzstillenden Mitteln wurde nichts mehr eingesetzt. 

Ihr Neffe, der Arzt war und sich für eine Woche im Ausland befand, protestierte zwar und schlug Verschiedenes vor, was man noch machen könnte. Sie war aber nicht mehr ansprechbar, atmete nur noch schwer.

Wir flüsterten ihr ins Ohr, dass ihr Neffe, den sie sehr liebte, auf dem Weg sei und bald eintreffen werde. Sie wartete, bis er da war. Dann tat sie ihren letzten Atemzug.

Das Sterbezimmer stand allen offen, die von ihr Abschied nehme wollten. 

Dieses Sterben, dass sich innerhalb weniger Wochen vollzog, war für mich eine tiefe unauslöschliche Erfahrung, und ein Modell für einen guten und würdigen Übergang.

Es hat mir auch die Frage nach dem Freitod nahegebracht. Weil ich spürte, dass dieser Ausweg für meine Nachbarin nicht die angemessene Lösung gewesen wäre, hatte ich auf ihre Frage «Nein» gesagt. Dass der Gedanke in ihr aufgekommen war, ihre Leidenszeit abzukürzen, konnte ich aber gut nachvollziehen.

Sie hatte sozusagen ideale Sterbebedingungen. Dass schwerkranke Menschen in einer hoffnungslosen Situation, abhängig und von Fremden betreut, sich dazu entschliessen, freiwillig zu gehen, ist für mich absolut verständlich. Sogar die Bestrebungen von EXIT, der schweizerischen Sterbebegleitungs-Organisation, alten und lebenssatten Menschen zu erlauben, ohne schwerwiegende Diagnose ihr Leben zu beenden, finde ich berechtigt. 

Das hängt wohl damit zusammen, dass ich inzwischen selber so alt geworden bin. Vor vielen Jahren habe ich noch nicht begriffen, warum der Mann einer Freundin im Endstadium seiner Krankheit nicht seinen natürlichen Tod auf sich zukommen lassen konnte. In unserm Gespräch zwei Tage vor seinem Freitod habe ich verstanden, dass die Entscheidung für ihn ein wichtiger letzter Akt der Selbstbestimmung war, nachdem er sich seiner unheilbaren Krankheit hatte beugen müssen.

Der Tod und das Mädchen

Vorüber, ach vorüber

geh wilder Knochenmann.

Ich bin noch jung,

geh, Lieber, und rühre mich nicht an.

Gib deine Hand,

du schön und zart Gebild,

bin sanft und komme nicht zu strafen.

Ich bin nicht wild,

sollst sanft in meinen Armen schlafen.

……

Vertont von F. Schubert

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O Herr, gib jedem seinen eignen Tod,

das Sterben, das aus jenem Leben geht,

darin er Liebe hatte, Sinn und Not. 

Rainer Maria Rilke